Sie beobachten das Spielgeschehen schweizweit und intervenieren bei Ungereimtheiten. 2019 debütierten die Videoschiedsrichter und operieren seither aus Volketswil. Ein Blick in den Raum in einem schmucklosen Industriebau, in dem die Schiedsrichter vor den Bildschirmen sitzen.
Wofür Städte bekannt sind, ist unterschiedlich: Historische Ereignisse, berühmte Wahrzeichen oder wirtschaftliche Bedeutung lösen Verbindungen aus, die wir Menschen zu Orten herstellen. So verbinden wir Winterthur mit Kultur, Genf mit internationaler Diplomatie und Luzern mit seinem Tourismus. Doch manchmal entstehen ungewöhnliche Assoziationen. Ein Beispiel aus dem Zürcher Oberland zeigt, dass selbst ein recht unscheinbares Städtchen eine ganz eigene Bekanntheit erlangen kann.
So wurde Volketswil für Fussballfans zum Synonym für den Videoschiedsrichter (VAR). Seit der Saison 2019/2020 werden strittige Spielszenen von dort aus überprüft – und wann immer Fussballfans den Namen der Stadt hören, denken sie automatisch an den VAR.
Zu Gast bei Streamingdienst
Während sich der Spitzenfussball hauptsächlich in den grössten Städten der Schweiz abspielt, operieren die Videoschiedsrichter aus der Agglomeration heraus. Der Grund: Der internationale Videoproduktionsdienst NEP hat sich in Volketswil niedergelassen und produziert von dort aus Videomaterial für die zwei höchsten Spielklassen im Schweizer Fussball – die Super League und die Challenge League. Die Unternehmung ist spezialisiert auf die Videoproduktion von Live-Anlässen und stellt dem ebenfalls in Volketswil ansässigen Streamingdienst Blue Sport Videomaterial zur Verfügung. Auch die Videoschiedsrichter der Swiss Football League (SFL) agieren aus der NEP-Zentrale.
«Die Swiss Football League profitiert als Mieterin von der Ausstattung des Konzerns, ohne selbst eine Anlage errichten zu müssen», sagt Stefan Baumgart-ner, Medienverantwortlicher für das Schiedsrichterwesen des Schweizerischen Fussball verbands (SFV). Seit der Saison 2019/20 ist der VAR in allen Partien der Schweizer Super League im Einsatz. Für Challenge-League-Partien gibt es bisher keine Videoschiedsrichter.
Die Bildschirm-Schiedsrichter
In der Zentrale von NEP ist seit 2019 – neben den üblichen Büro- und Produktionsräumen – ein separater Raum mit fünf Arbeitsplätzen für Videoschiedsrichter installiert: der Video Operation Room (VOR). Pro Arbeitsplatz sind jeweils drei Personen im Einsatz: der Video Assistant Referee (VAR), der die Entscheidungen trifft, der Assistant Video Referee (AVAR), der das Spiel beobachtet, während der VAR sich eine Wiederholung ansieht, sowie der Replay Operator (RO), der dem VAR das gewünschte Bild liefert.
Insgesamt fünf Partien können von dort aus gleichzeitig betreut werden. Jede dieser Stationen ist mit fünf Bildschirmen ausgestattet, von denen zwei das Standardbild zeigen, das auch im Fernsehen zu sehen ist. Zwei weitere Bildschirme zeigen alternative Perspektiven, und der letzte wird vom Replay Operator bedient. «Der RO ist sozusagen der Techniker, der den VAR und den AVAR entlastet, damit sich diese vollkommen auf die Entscheidungsfindung konzentrieren können», so Stefan Baumgartner.
Mit dem VAR wäre das nicht passiert
Im Jahr 1985 pfiff Schiedsrichter Walter Nussbaumer die Partie FC St. Gallen gegen Neuchâtel Xamax während eines vielversprechenden Angriffs der St. Galler ab. Die Spieler waren wütend und gingen auf den Schiedsrichter los. Es kam zu derart heftigen Auseinandersetzungen, dass der Schiri mit einem Helikopter aus dem Stadion geflogen werden musste.
Bruno Klötzli wurde ebenfalls Opfer einer solchen Jagd, alser im Jahr 1989 die PartieFC Sion gegen den FC Wettingen abpfiff, während der Ball noch in der Luft war und sich später genau so senkte, dass er in den Sittener Maschen zu liegen kam.
Der FC Basel ruft
Schiedsrichter kommen aus verschiedenen Regionen der Schweiz nach Volketswil. Anojen Kanagasingam ist eine Stunde vor seinem Einsatz als VAR in der NEP-Zentrale. Zusammen mit AVAR Hajrim Qovanaj betreut er die Partie FC Winterthur gegen den FC Basel. Beide tragen Trainingsanzüge, tauschen sich über vergangene Spielsituationen aus und trinken Kaffee. Sie wirken entspannt und routiniert. Währenddessen überprüfen Techniker, ob die Kameras in den Stadien funktionieren und die Kommunikation mit dem Schiedsrichterteam gewährleistet ist. Kurz vor Anpfiff müssen alle Systeme einsatzbereit sein. Zuvor können sich die Videoschiedsrichter an Teststationen aufwärmen. «Diese Anlagen simulieren den Ernstfall durch Spielsituationen anderer Ligen, die wir bewerten müssen», so Qovanaj. Die Nutzung ist freiwillig, wird von den beiden aber gerne wahrgenommen – vor allem, da ständig neue Spielszenen hinzukommen. «Es sind sogar Spielsituationen von der Länderspielpause vergangene Woche dabei.» Es bereite ihnen Freude, sich mit komplexen Fällen auseinanderzusetzen. Danach seien sie fokussiert für den Einsatz.
Schrillt die Pfeife eines Schiedsrichters auf dem Feld, gilt im VAR volle Konzentration. Gemäss dem VOR-Protokoll muss jede Spielsituation auf einen Regelverstoss überprüft werden. Intervenieren darf der VAR aber nur bei möglichen roten Karten, Toren und Strafstössen – und auch nur dann, wenn es sich um eine klare und offensichtliche Fehlentscheidung handelt. Dafür stehen dem VAR ein grüner und ein roter Knopf zur Verfügung. Mit dem grünen markiert er den Zeitpunkt der fraglichen Szene, mit dem roten kommuniziert er mit dem Schiedsrichter auf dem Feld.
«Wir im VOR sind andauernd im Einsatz, sprechen miteinander und beobachten das Spiel», sagt VAR Kanagasingam. AVAR Qovanaj fügt lachend hinzu: «Wir trinken nicht einfach Kaffee, bis etwas Strittiges passiert.» Was für sie ein humorvoller Spruch ist, sei in den Medien jedoch ein verbreitetes Vorurteil. Die Anspannung sei als VAR oft sogar höher. «Schlussendlich steht der Schiri auf dem Feld auch für unsere Entscheidungen ein», so Kanagasingam. Ist sich der VAR unsicher, kann der Schiedsrichter auf dem Platz die Szene am Bildschirm selbst begutachten.
Zahl der Fehlentscheide nimmt ab
Mit der Einführung des VAR konnten zahlreiche Fehlentscheide verhindert werden. Martin Iseli, Verantwortlicher für die Ausbildung der Spitzenschiedsrichter und des VAR, sagt: «Der Schweizer Fussball ist mit dem VAR fairer geworden.» Trotzdem gebe es immer wieder Entscheidungen, mit denen Zuschauer nicht einverstanden seien. «Man kann es im Fussball nie allen recht machen», so Kanagasingam. Fehler seien trotz Technologie nicht ausgeschlossen. «Wir sind keine Maschinen, sondern immer noch Menschen», ergänzt Qovanaj.
Zudem gebe es bei vielen Situationen Interpretationsspielraum – etwa bei der Beurteilung von Handspielen. Bei faktischen Entscheidungen, etwa Abseits oder Ball im Aus, gelte jedoch Nulltoleranz. Diese Szenen seien objektiv zu beurteilen – entweder ist etwas so oder nicht. Kalibrierte Abseitslinien seien zuverlässig, sagt Iseli.
Wie man in England mit dem VAR umgeht
In der höchsten englischen Spielklasse – der Premier League – haben die Fans ihre eigene Art gefunden, mit kniffligen Schiedsrichterentscheidungen umzugehen. Seit dieser Saison macht sich der Brauch breit, dass Zuschauerinnen und Zuschauer, die in der Nähe des Bildschirms sitzen, an dem der Schiedsrichter Situationen überprüft, ihm bei dessen Ankunft Geld zustecken. Funktioniert hat es bisher noch nicht – soll es doch mal jemand in der Schweiz versuchen.
Yverdon versus Young Boys
Die Infrastruktur kann sich unterscheiden, indem beispielsweise die TV-Kameras je nach Stadion in einer anderen Höhe positioniert sind. Die Minimalvorgaben des International Football Association Board bzw. der Uefa (gemäss VAR-Protokoll) müssen aber in allen Stadien gleich umgesetzt werden, damit die Fairness gewährleistet werden kann. «Als VAR ist es daher meine Aufgabe, mit diesen Voraussetzungen professionell umzugehen. Der Zuschauer – genauso wenig wie ich selber – macht keinen Unterschied, ob ich als VAR für ein Spiel im Wankdorf, im Kybunpark oder im St. Jakob-Park im Einsatz stehe», sagt Kanagasingam. In allen Schweizer Stadien, so auch im provisorisch wirkenden Stadion in Yverdon, kommen mindestens sechs Kameras zum Einsatz: zwei auf der Höhe des 16er-Raums, je 1 hinter jedem Tor sowie eine hohe und eine tiefe Kamera auf der Höhe der Mittellinie. Bei TV-Topspielen – etwa am Samstagabend auf SRF – kommen zusätzliche Kameras hinzu. Dann stehen den Videoschiedsrichtern bis zu zwölf Perspektiven zur Verfügung.
Verbunden mit dem Rasen
Um als VAR arbeiten zu dürfen, müssen Schiedsrichter ein spezielles Ausbildungsprogramm absolvieren. Die zuständige Aufgebotsstelle des SFV rotiert zudem wöchentlich die Zusammensetzung der Schiedsrichterpaare im VOR, damit alle Beteiligten in Übung bleiben. «Die verschiedenen Konstellationen und der Einsatz auf dem Feld und vor den Bildschirmen halten uns in allen Bereichen fit», sagt Super-League-Schiedsrichter Kanagasingam.
Trotz der Technik bleibt die emotionale Bindung zum Spielfeld bestehen. «Unsere Karriere hat auf dem Rasen begonnen, dort ist unsere Leidenschaft entstanden», sagt Qovanaj. Für Kanagasingam sind es zwei verschiedene Paar Schuhe – doch auch er schliesst sich an: «Das Schiedsrichtern auf dem Feld bleibt meine Passion.»