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«Wir alle brauchen Gemeinschaft»

Erstellt von Beatrice Rinderknecht Bär |
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"Ich schreibe diese Zeilen zu Hause und nicht in der ansonsten so einladenden und belebten Pizzeria Corona beim Bahnhof in Schlieren, dem Ort, in dem sich meine Praxis befindet. In dieser Pizzeria traf ich manchmal tagsüber Berufskolleginnen oder -kollegen zum Austausch oder meinen Sohn zum Mittagessen, letztes Jahr während ein paar kurzer Monate. Jetzt ist sie geschlossen, wie auch die Pizzeria beim Bahnhof in Küsnacht und alle anderen.

Ich schreibe im privilegierten Zustand einer (noch) gesunden Rentenbezügerin, deren Angehörige und Bekannte (bis jetzt) weitgehend von der Pandemie verschont geblieben sind. Einige, unterdessen sind es immer mehr, haben jedoch Angehörige und Freunde, die an dieser Krankheit gestorben sind. Viele der gestorbenen Menschen sind älter oder sehr alt, hätten aber jetzt nicht sterben müssen oder wollen.

Es ist mir auch bewusst, wie gross das Leiden der abgeschotteten Menschen in Alters- und Pflegeheimen, in Spitälern und Asylzentren, aber auch im jetzt wieder vermehrt isolierten Zuhause sein kann.
Ich weiss von Bekannten, wie schwierig es nur schon für diejenigen Menschen ist, deren überlebenswichtige tägliche Kontakte mittags im Migros-Restaurant, an einer morgendlichen Runde im Café oder abends am Stammtisch stattfanden. Und draussen ist es jetzt im Januar sehr viel kälter als letztes Jahr im schönen Frühling.

Daneben ist im letzten Jahr vieles entstanden und gewachsen: Nachbarn halfen einander, Freiwillige packten an, wo es nötig war, wir telefonierten, zoomten und skypten miteinander oder trafen uns auf Distanz.

Halten wir das immer noch aufrecht oder ist es nun nicht mehr so einfach, wiederum und nochmals um Hilfe zu bitten? Haben wir nicht ein wenig genug vom Zueinanderschauen und möchten uns wieder mehr um unsere eigenen Bedürfnisse kümmern? Haben wir uns vielleicht sogar eingerichtet in diesem «neuen Normal», wie der jetzige Zustand manchmal genannt wird? Oder werden wir in unserem Unmut zu kleinen Rebellen, die sich «von oben» angeordneten Massnahmen widersetzen? Ich jedenfalls beneide unsere Katze, die scheinbar nichts ahnend auf meinem Schreibtisch neben dem Computer sitzt. Träge und entspannt sieht sie in die Weite. Eine Weite, die ich gerne wieder erleben würde, dieses Jahr möchte ich wirklich nach Sizilien reisen können.
Wir hatten im letzten Frühling mehr Zeit für Musse, Innehalten und kreative Tätigkeiten, die wir zum Teil fortsetzten, die aber auch wieder abgebröckelt sind – so wie die guten Vorsätze es häufig tun. Ich selber habe wieder mit Brotbacken aufgehört. Die Wanderungen und Velofahrten zum Hofladen sind schon im letzten Sommer seltener geworden, der Coop liegt heute manchmal näher als der Gemüsestand.

Meine Zeit ist damit gefüllt, meine Arbeiten trotzdem weiterzuführen, wieder die Enkel zu hüten, alternative Formen der Begegnung zu gestalten. Ich habe mich schon daran gewöhnt, an Weiterbildungen, Konzerten, Aufführungen online teilzunehmen. Aber will ich das auch in Zukunft? Nein, ich will das alles wieder live!

Die Kindergartenklasse eines meiner Enkel hat für Weihnachten statt einer Aufführung im Schulzimmer einen Film für die Eltern und Grosseltern produziert. Der Film war lustig und gut gemacht, aber ich wäre sehr viel lieber mit dabei im Schulzimmer gesessen, so auf einem kleinen Kindergartenstuhl. Sicher hätten auch die Kinder mehr Freude an Zuschauenden als an den Lehrern hinter der Kamera gehabt. Was ich inständig hoffe: dass die Schulen nicht wieder geschlossen werden. Für die Kinder, für die Eltern im Homeoffice, für das Wahrnehmen von Bildungs- und Beziehungsangeboten, gegen das Eingesperrtsein.

Das gemeinschaftsbildende Gipfelstürmerprogramm, das erst begonnen hat und noch über das ganze Jahr in Küsnacht durchgeführt wird, kann nicht mehr von allen Interessierten besucht werden. Nicht alle sind in der Lage oder haben Lust, auf dem Bildschirm zwei Stunden lang kleine Bildchen anderer Teilnehmerinnen anzuschauen und ihnen aus dem Lautsprecher zuzuhören. Und trotzdem: Dieses Programm hat Potenzial für unser Gemeinwesen. So vieles kann in Küsnacht noch aufgebaut und verwirklicht werden, zum Beispiel ein Netzwerk, in dem man Zeitstunden schenkt und später wieder andere Stunden beziehen kann (spazieren, Katzen füttern, Bilder aufhängen, Menschen und Dinge transportieren, schreiben, übersetzen, begleiten). Und ein Quartierhof auf der Allmend, mit einer Esel-, einer Wollschwein-, einer Hühner- und einer Gartengruppe. Und eine gemeinschaftlich geführte Quartierbeiz auf der Kunsteisbahn Küsnacht (KEK). Und so weiter.

Wir brauchen einander: Wir alle brauchen Gesellschaft, Austausch, Nähe, gemeinsame Erlebnisse und Zusammenhalt in einer Gruppe. Gerade zur richtigen Zeit, das Gipfelstürmer-Programm. Für eine nachhaltige gesellschaftliche und ökologische Entwicklung. Und auch die anderen, ganz grossen Krisen nicht aus den Augen verlieren, sondern hier und jetzt an den Wurzeln packen: Klima, Krieg, Flucht.
Wenn Corona dafür das Bewusstsein schärfen und uns zu konkreten Handlungen motivieren würde, dann hätte diese Pandemie vielleicht immer noch keinen Sinn, aber tatsächlich eine Wirkung."
Beatrice Rinderknecht Bär, Küsnacht

Corona in Küsnacht: Diese Zeitung spricht in loser Folge mit Küsnachterinnen und Küsnachtern über die aktuelle Pandemie. Heute mit Beatrice Rinderknecht Bär, Familien- und Paartherapeutin/Mediatorin sowie Grossmutter.