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«Seine Gedanken sind aktueller denn je»

Erstellt von Tobias Stepinski |
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Anlässlich von Thomas Manns 150. Geburtstag erinnert ein Vortrag in Küsnacht an den Nobelpreisträger im Exil. Thomas Sprecher, einst Leiter des Thomas-Mann-Archivs, zeigt, was ihm die Schweiz bedeutete – und warum seine Gedanken bis heute aktuell sind.

Am 6. Juni 2025 jährt sich der Geburtstag von Thomas Mann zum 150. Mal. Der Literaturnobelpreisträger gehört zu den bedeutendsten Autoren deutscher Sprache – nicht nur wegen seiner Romane, sondern auch wegen seines politischen Engagements. In der Schweiz ist Mann besonders mit Küsnacht verbunden: Von 1933 bis 1938 lebte er hier im Exil.

Zum Jubiläum hält Dr. Thomas Sprecher, langjähriger Leiter des Thomas-Mann-Archivs der ETH Zürich, einen öffentlichen Vortrag unter dem Titel «Thomas Mann und Küsnacht». Die Veranstaltung findet am 6. Juni in der Semihalle der Kantonsschule Küsnacht statt – an jenem Ort, an dem Thomas Mann 1934 eine seiner wenigen öffentlichen Lesungen in der Schweiz hielt.

Warum sollten wir uns heute noch mit Thomas Mann auseinandersetzen?

Er gehört zu den ganz grossen Schriftstellern, nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern in der Weltliteratur. Man hat ihn den Goethe des 20. Jahrhunderts genannt. Wenn man die wichtigsten deutschsprachigen Autoren nennt, fällt sein Name immer. Und viele seiner Themen sind nach wie vor aktuell. Ein Beispiel ist «Doktor Faustus» von 1947, in dem es um Kriegsschuld geht. Diese Frage ist bis heute relevant: Wie konnte es in Deutschland so weit kommen? Oder «Joseph und seine Brüder», eine Nacherzählung der biblischen Geschichte, die nie an Aktualität verliert. Sie ist nicht an Tagesereignisse gebunden und bleibt lesenswert, auch noch in Jahrzehnten. Zudem war Thomas Mann nicht nur Literat, sondern auch eine moralische Figur. Er wurde zu einem Vorbild als jemand, der sich dem Nationalsozialismus widersetzte. Gerade deshalb wird er auch politisch immer wieder herangezogen.

Was fasziniert Sie persönlich an seinem Werk?

Ganz klar: seine Sprache. Ich habe beim Lesen ein grosses ästhetisches Vergnügen, das sich bis heute nicht verloren hat. Das verändert sich zwar im Laufe der Zeit – je nachdem, in welcher Lebensphase man sich befindet, gewinnen andere Texte an Bedeutung. Aber das Vergnügen bleibt. Ich bin nicht in der Mittelschule zu ihm gekommen, sondern erst im Germanistikstudium. Dort habe ich Vorlesungen über Thomas Mann besucht, und das hat mein Inte­resse geweckt. Ich habe dann meine ­Dissertation über ihn geschrieben, über «Felix Krull» und den Bezug zu Goethe. Und wenn man sich einmal so intensiv mit einem Autor befasst hat, bleibt man dabei.

Wie gut ist das Leben von Thomas Mann dokumentiert?

Aussergewöhnlich. Es gibt kaum jemanden im deutschsprachigen Raum, der so viele Briefe und Tagebücher hinterlassen hat. Über 30 000 Briefe sind erhalten geblieben. Das hängt auch damit zusammen, dass er schon früh mit «Buddenbrooks» in den 1900er-Jahren berühmt wurde. Ab 1936 bis zu seinem Tod führte er praktisch durchgehend Tagebuch. Und er äusserte sich öffentlich zu vielen Themen. Hinzu kommt: Auch seine Familie war sehr aktiv. Alle sechs Kinder schrieben selbst Bücher oder gaben Interviews. Dadurch erhält man auch über ihn ein sehr dichtes Bild.

Hatten Sie selbst Kontakt zur Familie Mann?

Ja, ich habe Golo Mann 1990 noch persönlich getroffen. Auch Elisabeth Mann Borgese kannte ich gut. Sie kam regelmässig nach Zürich, wo wir uns trafen. Ihr Verhältnis zum Vater war sehr innig. Sie sprach stets in höchsten Tönen von ihm, oft mit einer gewissen Idealisierung. Golo Mann hingegen hatte ein distanzierteres, komplizierteres Verhältnis. Er sagte einmal, er sei erst nach dem Tod des Vaters wirklich frei geworden. Mir gegenüber war er offen und ehrlich, aber man spürte eine gewisse Belastung.

Warum hat Thomas Mann überhaupt im Exil gelebt?

Es war keine Flucht – das ist mir wichtig zu sagen. Thomas Mann war im Februar 1933 in Arosa in den Winterferien, als ­Hitler an die Macht kam. Aus München wurde ihm ausgerichtet, er solle besser nicht zurückkehren – sein Leben sei in Gefahr. Zunächst begriff er das nicht richtig, aber bald war klar: Es gab kein Zurück mehr. So wurde er unfreiwillig zum Exilanten. Er reiste über das Tessin nach Südfrankreich. Doch er wollte wieder in den deutschsprachigen Raum – deshalb entschied er sich für die Schweiz. Im Herbst 1933 zog er nach Küsnacht. Anfangs hatte er nur einen Mietvertrag für sechs Monate, doch dieser wurde immer wieder verlängert. Am Ende blieb er fünf Jahre.

Wie hat er Küsnacht erlebt?

Es war ein ruhiger Wohnort, nicht mehr. Er hatte kaum Berührungspunkte mit der Gemeinde. Er war in keinem Verein, hatte keinen besonderen Kontakt zur Bevölkerung. Aber er schätzte die Ruhe, die Natur, die Spazierwege und dass man ihn in Ruhe liess. Er konnte hier ungestört arbeiten. In diesem Sinne war Küsnacht für ihn ideal.

Sie haben es angesprochen: Thomas Mann war auch politisch engagiert. Wie genau zeigte sich das?

Zunächst hielt er sich zurück. Er hoff­te wohl, dass sich die Lage in Deutschland wieder ändern könnte. Und er wollte seine Bücher dort weiter verkaufen. Ausserdem durfte er sich als Ausländer in der Schweiz nicht politisch äussern. Ab etwa 1936 änderte sich das. Er äusserte sich offen gegen das Hitler-­Regime. Zuvor hatte er sich zurückgehalten, wohl auch, um seine Bücher noch verkaufen zu können. Aber dann wurde seine Haltung deutlich, zum Beispiel in einem ­offenen Brief, den er in der «Zürcher Zeitung» veröffentlichte. In den USA setzte er sich aktiv dafür ein, dass die Regierung gegen Nazideutschland Stellung bezog. Er hatte zweimal eine Audienz beim amerikanischen Präsidenten. Viele deutschsprachige Emi­granten suchten den Kontakt zu ihm. Man nannte ihn «Kaiser der Emigranten». Einige kamen sogar nach Küsnacht, um sich mit ihm auszutauschen oder Rat zu holen. Er war eine sehr präsente Figur – und er spielte diese Rolle auch gern und überzeugend.

War sich Thomas Mann seiner öffentlichen Rolle bewusst?

Ja, absolut. Er wurde mit Mitte 20 mit «Buddenbrooks» berühmt und trat von da an als öffentliche Figur auf. Thomas Mann wusste, dass seine Worte Gewicht hatten. Er verstand sich nicht nur als Schriftsteller, sondern als Vertreter der deutschen Kultur. Schon früh sah er sich in der Nachfolge grosser Figuren wie Goethe oder Wagner. Er legte grossen Wert auf Repräsentation, und die Öffentlichkeit reagierte entsprechend. Man hörte auf ihn. Er wurde zu Umfragen ­eingeladen, seine Meinung hatte Bedeutung. Diese Rolle als intellektuelle Autorität nahm er an. 

Wenn Sie heute mit Thomas Mann ins Gespräch kommen könnten ­– worüber würden Sie mit ihm reden?

Das ist gar nicht so einfach. Ich kenne fast alles, was er geschrieben oder gesagt hat. Man müsste also Themen finden, die nicht bereits dokumentiert sind. Ich würde mit ihm über einzelne Werke sprechen, besonders über «Joseph und seine Brüder». Das ist mein Lieblingsbuch. Ich würde ihn fragen, warum er bestimmte Passagen genau so ­geschrieben hat. Ein Teil dieses Buchs entstand in Küsnacht. Für mich gehört es zu den bedeutendsten Büchern des 20. Jahrhunderts.

Und abgesehen von seinen Werken?

Ich glaube, man könnte mit ihm auch über sein Demokratieverständnis sprechen. Er ist in einer Monarchie auf­gewachsen und hat sie lange verteidigt. Die schweizerische Demokratie, wie sie heute funktioniert, mit Parteien, mit Mitbestimmung, hat er nie wirklich ­verstanden. Das wäre ein spannendes Thema. Auch über Sexualität könnte man sprechen. Homosexualität war in seiner Zeit ein Tabuthema. Wie er heute darüber sprechen würde, wäre sehr interessant.

Spannen wir den Bogen zur heutigen politischen Weltlage: Hätte sich Thomas Mann auch zum Ukrainekrieg geäussert?

Ich bin überzeugt, dass er sich klar positioniert hätte. Seine Aussagen zum Zweiten Weltkrieg lassen sich fast eins zu eins auf den russischen Angriff auf die Ukraine übertragen. Das Verhalten, die Zerstörung, der Imperialismus sind sehr ähnlich. Er hätte wohl auch gesagt, dass Neu­tralität in solchen Fragen nicht hilft. Seine Kritik am Appeasement war sehr deutlich. Das alles wirkt heute wieder erschreckend aktuell.

Welches Werk würden Sie jungen ­Menschen empfehlen, die Thomas Mann noch nicht kennen?

Ich würde mit «Buddenbrooks» beginnen. Es basiert auf seiner eigenen Fa­miliengeschichte, ist verständlich und nicht zu lang. Auch das Werk «Tod in ­Venedig» kann ich empfehlen. Es bietet einen guten Einstieg. Wer lieber hört: Es gibt sehr gute Hörbuchfassungen. Generell ist Thomas Mann vielleicht eher ein Autor für Erwachsene. In der Schule springt der Funke oft noch nicht über.

Zum Schluss: Können Sie noch einen kurzen Ausblick auf Ihren Vortrag am 6. Juni in Küsnacht geben?

Ich möchte vor allem einen Bogen spannen – von Thomas Manns Herkunft über seine Zeit in der Schweiz bis hin zu seinem Exil in Amerika. Dabei geht es mir nicht nur um Küsnacht, sondern um das grössere Ganze. Es hilft zu verstehen, was für ein Mensch damals in die Schweiz kam und dies auch mit Blick auf seine Biografie. Nur Küsnacht wäre mir zu eng gefasst. Die fünf Jahre hier waren vergleichsweise kurz und eher ruhig.