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«An der EM gibt es eine Überraschung»

Erstellt von Damjan Bardak |
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Kathrin Lehmann war im Fussballtor ebenso zu Hause wie auf dem Eishockeyfeld. Ihr sportliches Talent wurde in Küsnacht entdeckt – heute analysiert die schweizerisch-deutsche Doppelbürgerin die EM-Spiele im ZDF-Studio und gehört zu den einflussreichsten Stimmen des Schweizer Frauensports.
 

Als die kleine «KA», wie die ehemalige Spitzensportlerin genannt wird, laufen lernte, dauerte es nicht lange, bis ihre Mutter ihr die Schlittschuhe anzog. Als ehemalige Trainerin des Schlittschuhclubs Küsnacht brachte die Mutter ihr sogleich das Eislaufen bei, bis sie mit vier Jahren mit Eishockey anfing. «Ich bin in einer waschechten Sportlerfamilie gross geworden», sagt die 45-Jährige. Die Eltern arbeiteten beide als Sportlehrer, und die zwei älteren Brüder spielten Eishockey im SCK. Aufgewachsen in der Siedlung im «Gü» in Küsnacht spielte Lehmann in der Nachbarschaft täglich Fussball – und war dabei nicht das einzige Mädchen. «Allerdings war es besonders, dass ich als Mädchen dem lokalen Verein beitreten wollte.» Dieser habe zu ihrer Zeit kein einziges weibliches Mitglied gehabt. Doch sie habe nicht zwischen Knaben und Mädchen unterschieden. Für sie war damals wie heute logisch: Im SCK sind die, die gerne Eishockey spielen, und im FCK die, die gerne Fussball spielen. Und somit begann – ausgehend vom Zürichsee – eine herausragende polysportive Karrieregeschichte, die in dieser Art kein zweites Mal geschrieben wurde. Sowohl im Fussball als auch im Eishockey gewann Kathrin Lehmann den höchstmöglichen europäischen Wettbewerb. An der soeben gestarteten Fussball-Europameisterschaft in der Schweiz analysiert die deutsch-schweizerische Doppelbürgerin die Partien als Expertin für das ZDF.

Torhüterin und Eishockeystürmerin

An einem «Schüeli», dem jährlichen Fussballturnier zwischen Küsnachter Schulklassen Ende der Achtzigerjahre, hat sich Kathrin Lehmann dazu entschlossen, direkt beim damaligen Vereinspräsidenten Walter Hauser anzufragen, ob sie dem FCK beitreten könne. Da zu dieser Zeit kein Mädchen in den Mannschaften spielte, musste Hauser das erst abklären. Schliesslich freute sich die Vereinsführung über die Mitgliedschaft, woraufhin «KA» wenige Tage später an einem Training teilnahm. Ihr Talent kam schnell zum Vorschein, und sie entwickelte sich zu einer der besten Juniorinnen der Nation. Noch heute dankt sie dem Trainerduo, bestehend aus Christian Brütsch und Alexandra Schärrer, das sie während ihrer Zeit als Nachwuchsspielerin gefördert hat. Ausserdem meint sie: «Es war für mich toll, als einziges Mädchen im Verein eine Frau zu haben, zu der ich hochschauen konnte und die mich inspirierte.» Zeitgleich lernte Lehmann beim SCK Sandra Cattaneo kennen, mit der sie Jahre später in der Schweizer Eishockey-Nati den Sturm bildete. Lehmann sagt dazu: «Zwischenzeitlich hatten wir einen Küsnachter Sturm im Nationalteam. Das hat eine Menge Spass gemacht.»

Per Zufall zwischen den Pfosten

Als Lehmann sich in einem Fussballtraining der E-Junioren den Fuss verknackste, stellte sie sich in einem vereinsinternen Testspiel ins Tor. Dort hat sie sich so gut geschlagen, dass die Trainer Schweingruber und Schneider fragten, ob sie am Wochenende als Torhüterin spielen wolle. «Spiele waren für mich das Schönste, womit ich dieses Angebot unmöglich ablehnen konnte.» Fortan wechselte sie ihre Position nicht mehr und stand schon bald für den SV Seebach in der Nationalliga A zwischen den Pfosten. Mit erst vierzehn Jahren absolvierte sie ihren ersten Einsatz in der höchsten Schweizer Spielklasse, ehe sie zum FC Rapperswil-Jona in die NLB wechselte. Über die Station FC Schwerzenbach ging es für die Sportlerin nach Deutschland – und weit darüber hinaus.

Eine zweispurige Weltreise

Deutschland, Schweden und die Vereinigten Staaten – wo auch immer die Reise von «KA» hinging, musste die Möglichkeit bestehen, sowohl Fussball als auch Eishockey zu spielen. «Nie und nimmer hätte ich das eine für das andere aufgegeben», meint die doppelte Nationalspielerin. Während sie das Tor des FC Bayern hütete, stürmte sie für den Münchner Eishockeyklub oder den VfR München-Angerlohe. Spielte sie in Schweden für den Fussballverein Hammarby IF, tat sie das gleichzeitig für den Eishockeyverein AIK Solna. Selbst in den USA, als sie für die Oklahoma State Cowgirls Schüsse parierte, dribbelte sie für den TV Kornwestheim. «Meine Positionen haben sich bestens ergänzt. Trainierte ich das eine, profitierte ich zugleich für das andere», sagt Lehmann. Da Eishockey eine Sportart sei, die Schnell- und Maximalkraft erfordere, ergänze sie sich exzellent mit der Position als Torhüterin im Fussball, die ebenfalls auf Schnell- und Maximalkraft angewiesen sei. Hätte sie im Fussball auf einer anderen Position gespielt, wäre es schwieriger gewesen, diese Zweispurigkeit zu leben. «Wäre ich im Fussball Feldspielerin gewesen, hätte ich diese Karriere nie machen können», so Lehmann.

Sie weiss, wie die Nationen ticken

Dadurch, dass Lehmann viel gereist ist, lernte sie verschiedene Kulturen kennen und verstand ihre Verbindung zum Sport. An zwei Faktoren misst die vielfältige Sportlerin, wie das Standing der Sportarten in den jeweiligen Nationen ist: die taktische Ausrichtung und die Anerkennung des Trainer-Seins. «Wenn man in der Schweiz Trainerin ist, fragen die Leute, wie viel man verdient. In Deutschland danken sie für das soziale Engagement. In Schweden verstehen sie es als Bildungsauftrag. Und in den USA ist Coach ein echter Titel», so Lehmann. Auch taktisch seien die Länder verschieden. In der Schweiz habe sie gelernt, anständig zu spielen, in Deutschland die Disziplin zu verfolgen, in Schweden selbstständig zu werden und in den USA Mut zu beweisen. Diese Erfahrungen bringt sie heute als Mitglied des Verwaltungsrats des Schweizer Eishockeyverbands ein, dem sie seit 2023 angehört. Doch auch aus Eigeninitiative wird Lehmann aktiv: 2013 gründete sie die Sportbusiness Campus GmbH und leitet Fussball- und Eishockey-Camps für Mädchen. Als Dozentin war sie in den Bereichen Sportdidaktik und Sportpädagogik an der Technischen Universität München und der ETH Zürich tätig. «Schon seit klein auf möchte ich mein Wissen und meine Erfahrungen teilen», so die 45-Jährige.

Grosse Freude auf die Heim-EM

«Es macht mich stolz, dass die Europameisterschaft in der Schweiz stattfindet», sagt Kathrin Lehmann. Als Expertin beim ZDF wird sie die Spiele vom Studio aus in Deutschland analysieren. In den letzten Jahren hat Lehmann bereits Erfahrung als Fernsehexpertin beim SRF gesammelt, wo sie seit 2015 alle Spiele der Schweizer Herren-Nati im Radio kommentiert. Zudem führt sie mit zusammen mit Oskar Heirler und Martin Piller den Podcast «Drei Ecken  — ein Elfer» über die Spiele der Frauenbundesliga. Für das Turnier in der Heimat wünscht sich Lehmann ein freudiges Fest – und hofft, dass die Schweizerinnen weit kommen. Für sie ist klar: «An der EM gibt es eine Überraschung».» Dies könnte gut möglich die Schweiz sein, sofern sie ihre Gruppe gewinnt. Wäre das nicht der Fall, besteht laut Lehmann die grosse Wahrscheinlichkeit, dass die Schweizerinnen im Viertelfinale auf die Spanierinnen treffen – die amtierenden Weltmeisterinnen. Grosse Chancen rechnet Lehmann den «Big Four» zu: Deutschland, England, Frankreich und Spanien. Allerdings schätzt sie, dass nur zwei der Titelanwärterinnen das Halbfinale erreichen werden. «Das Turnier wird wild – das haben Europameisterschaften so an sich.»