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Welt des Wahnkranken genau kennen lernen

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Der Küsnachter Psychiater Achim Haug schildert in seinem Sachbuch «Reise in die Welt des Wahns» Fallgeschichten von Menschen, die vorübergehend oder für immer aus der Normalität gefallen sind. Ein Gespräch über Wahn, Engel, Gehirn.

Achim Haug, «der hat ja einen Wahn!», sagt man salopp, wenn einer wunderliche Gedanken äussert. Wie definieren Sie als Psychiater den Wahn?

Die Psychopathologie bezeichnet damit eine private Lebenswirklichkeit, die wesentlich abweicht von den Konzepten der Mitmenschen. Zur Beurteilung, ob ein Wahn vorliegt, sind aber drei weitere Kriterien notwendig. Die Art, wie er erlebt wird, nämlich in unverrückbarer Gewissheit. Zweitens brauchen Wahnkranke keinen Beleg für ihre Wirklichkeit. Und drittens: Der Wahn muss lebensbestimmend sein.

Was unterscheidet ihn von Halluzinationen oder spinnerten Ideen?

Halluzinationen sind Sinnestäuschungen, mit Augen oder Ohren nehmen wir etwas wahr, das nicht existiert. Der Wahnkranke ist auch nicht durch Nachdenken auf seine Überzeugungen gekommen. Mit Logik ist ihm nicht beizukommen. Der Wahn ist ein Konzept, das sich das Gehirn von unserer Lebensrealität macht. Doch können alle drei zusammenkommen. Man muss deshalb äusserst vorsichtig mit einer Klassifikation umgehen, denn sie hat weitgehende Folgen.

Demnach haben Leute, die an Engel glauben, und das ist ja fast die Hälfte der Menschheit, keinen Wahn?

Die Wahrheit oder Falschheit der Auffassung ist kein Kriterium. Ein Kollege sagte: «Man kann auch einen Verfolgungswahn haben, wenn man tatsächlich verfolgt wird.» Bedeutsam ist allein, wie der Wahnkranke damit umgeht.

Reagieren Leute, die einen Wahn haben, beleidigt, wenn man ihnen einen solchen attestiert?

Ich bin erst mal neugierig darauf, die Welt des Wahnkranken ganz genau kennen zu lernen, ohne gleich zu sagen: Blödsinn! Ich lasse alle Absurditäten zu und gehe davon aus, dass es so ist, wie er es erlebt. Erst im Laufe der Therapie erkläre ich, dass seine Art von Vorstellungen oft im Rahmen von Krankheiten entstehen. Am Anfang nützt das nicht viel, aber mit der Medikation setzt eine Verbesserung ein, und die wahnhafte Realität wird brüchig. Da ist es wichtig, dass man bereits eine Brücke gebaut hat, um ihn auf dem Weg in die reale Welt zu begleiten.

Sie erzählen in Ihrem Buch die Geschichte Ihres Patienten Tobias Ernst, der sich ernsthaft für einen Heiligen hält, oder von Tamara Grünfeld, in deren Körper Trillionen Menschen lebten. Hatten Sie mal den Gedanken, dass Ihre Patienten die Wahrheit sprechen?

Für die Betroffenen ist es die Realität, die sie genauso real erleben wie wir unsere. Sie bilden sich das nicht ein. In diesem Sinne glaube ich ihnen. Allerdings lasse ich mich davon nicht anstecken, da wäre ich im falschen Beruf. Tatsächlich gibt es die Folie à deux, wenn Paare sich isolieren und der geistesgesunde Partner die Wahnsymptomatik des wahnkranken Partners ganz oder teilweise übernimmt.

Woher weiss der Gesunde, was die Realität ist?

Unser Weltbild wird geprägt von unseren Erfahrungen, unserer Erziehung und von unserer Kultur. Da unser Gehirn ziemlich faul ist, produziert es Vorurteile. Wir gehen davon aus, dass die Decke über uns nicht einstürzt, und können entspannt plaudern. Erst wenn es ihm Gebälk kracht, wird unser Vorurteil gestört. Realität ist also die Wirklichkeit, die wir mit unserer Umgebung teilen. Beim Wahn geschieht quasi das Gegenteil: Der Betroffene entfernt sich von dieser kulturell geteilten Auffassung der Wirklichkeit und entwickelt eine eigene, private Wirklichkeitsauffassung.

Kann jeder Mensch einen Wahn entwickeln?

Grundsätzlich kann jedes Gehirn so reagieren, dass es uns eine wahnhafte Realität vorspielt, auch wenn es zum Glück nicht oft vorkommt. Ausserdem ist Wahn mit Medikamenten behandelbar. In vielen Fällen ist Wahn keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom, das beispielsweise bei Demenz, Schizophrenie, Depressionen oder Manien auftreten kann. Gesunde Menschen besitzen auch Schutzmechanismen, damit sie keinen Wahn entwickeln.

Kann man diese präventiv stärken?

Das ist eine interessante Frage. Gegen den Wahn gibt es keinen Schutz, aber man kann sich insgesamt stärken, um psychisch stabil zu bleiben: indem man weltoffen ist, nicht zu dogmatische Weltvorstellungen hat, sich selbst reflektiert und überlegt, wie man zu den eigenen Überzeugungen gelangt ist und für sie gute Gründe angeben kann, indem man auf mitmenschliche Art verständnisvoll ist und gute familiäre und freundschaftliche Kontakte pflegt.

Was haben Sie von Ihren Patienten gelernt?

Sehr viel. Sie geben mir Einblick in ihre Erlebniswelten, sie lehren mich, wozu das Gehirn fähig ist, wie es Wirklichkeit erzeugt und Dinge real erscheinen lässt, die nicht real sind. Diese Relativität «des Richtigen» einerseits und der Wert des gesunden Menschenverstands andererseits – das sind Facetten, die ich gelernt habe. Und ich habe auch viel über mich selbst gelernt. Vieles von dem, was wir Gesunde als sicher erleben, ist tatsächlich gar nicht sicher, sondern hinterfragbar. Aber wir tun es nicht, und das gibt uns die Sicherheit, dass wir im Leben gut zurechtkommen. Es ist ein Schutz vor dem Wahn, den wir in uns haben.

 

Am Montag, 4. November, um 19.30 Uhr spricht Achim Haug über sein neues Buch «Reisen in die Welt des Wahns». Bibliothek Küsnacht, Im Höchhus, Seestr. 123, 8700 Küsnacht, Telefon 044 910 80 36.