In Küsnacht und Erlenbach stehen am 16. Juni erneut gewichtige Gemeindeversammlungen an. Doch nur ein Bruchteil der Bevölkerung entscheidet mit, wenn es um Millionenbeträge und planerische Zukunftsfragen geht. Ein Politologe ordnet ein.
Nur ein kleiner Teil entscheidet über Millionen. In Küsnacht und Erlenbach stehen nächste Woche Gemeindeversammlungen an. Auf den Traktandenlisten finden sich wichtige Themen – darunter Baukredite, Zonenordnung und Parkplätze. Doch die Beteiligung ist traditionell tief: In Küsnacht waren 2024 bei der ersten Gemeindeversammlung im Juni gerade einmal 123 Stimmberechtigte und bei der zweiten im Dezember dann immerhin 321 Personen. In Erlenbach dasselbe Bild: Dort kommen seit Jahren nicht mehr als 5 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Im November 2024 waren es 169 von 3 450 Stimmberechtigten.
Akzeptieren, wenn Interesse fehlt
Wie die Gemeinde Erlenbach auf Anfrage mitteilt, sei die Beteiligung seit längerem konstant geblieben. Eine Bewertung wolle man bewusst nicht vornehmen: «Die Stimmberechtigten entscheiden selber, ob und in welcher Form sie ihr demokratisches Recht als Legislative wahrnehmen wollen. Diese Entscheide sind zu respektieren.» Der Gemeinderat begrüsse eine rege Teilnahme, doch müsse akzeptiert werden, wenn das Interesse fehle, so die Gemeinde.
Auch in Küsnacht reagiert man diplomatisch: «Der Gemeinderat würde es begrüssen, wenn die Beteiligung höher ausfallen würde. Letztendlich ist es aber ein Entscheid der Stimmbevölkerung, an der Gemeindeversammlung teilzunehmen oder nicht.» Küsnacht beobachte keine klare Entwicklung, sondern eine Beteiligung, die «immer im ähnlichen Bereich» schwanke. Die Legitimität der Entscheide sei auch bei tiefer Beteiligung gewährleistet: «Das Abstimmungsresultat ist entscheidend.»
Wenn ein Geschäft die Bevölkerung besonders bewege, sei eine höhere Teilnahme feststellbar. Die Gemeinde Küsnacht ergänzt: «Es gibt ja auch die Möglichkeit, eine nachträgliche Urnenabstimmung zu verlangen, falls die Gemeindeversammlung den Eindruck hat, dass eine Mehrheit der nicht Anwesenden eine andere Meinung vertritt.»
Mobilität und Kinderbetreuung
Woran liegt es, dass nur wenige Stimmberechtigte an den Gemeindeversammlungen teilnehmen? Stefan Kalberer, Politikwissenschaftler am Zentrum für Demokratie Aarau, sieht gesellschaftliche Veränderungen als Hauptgrund: «Das Besuchen einer Gemeindeversammlung ist vielfach mit organisatorischen Herausforderungen verbunden – Kinderbetreuung, Arbeitszeiten, Pendleralltag. Gleichzeitig sinkt das Interesse an Gemeindepolitik allgemein.» Zudem nehme die Mobilität zu: «Wer neu in eine Gemeinde zieht, bringt oft keine enge Bindung mit. Auch das führt dazu, dass viele sich nicht angesprochen fühlen», erklärt Kalberer.
Die Gemeindeversammlung ist im Kanton Zürich nach wie vor die Regel. Rund 90 Prozent der Zürcher Gemeinden setzen auf das Versammlungsmodell. In der Deutschschweiz ist diese Form stark verbreitet – in der lateinischen Schweiz dagegen dominieren Gemeindeparlamente. Im Kanton Neuenburg etwa ist ein Parlament gesetzlich vorgeschrieben.
Versuche, Gemeindeversammlungen durch Parlamente zu ersetzen, stossen häufig auf Widerstand. «Abstimmungen über die Einführung eines Gemeindeparlaments hatten es vielfach schwer – siehe etwa Rapperswil-Jona oder Sursee», so Kalberer. Gleichzeitig stellt er fest: «Ein Parlament kann dort sinnvoll sein, wo die Gemeindeversammlung an ihre Grenzen stösst – etwa bei komplexen Geschäften oder wenn die Gemeinde zu gross wird, um Deliberation und Austausch effizient zu ermöglichen.»
In Küsnacht ist ein solcher Systemwechsel kein Thema: «Ein Gemeindeparlament steht nicht zur Diskussion. Der dörfliche Charakter mit der Organisation als Versammlungsgemeinde gehört zur DNA von Küsnacht», heisst es aus dem Gemeindehaus.
Ein Modell wie in Buchberg SH, wo eine Stimm- oder Beteiligungspflicht gilt und unentschuldigtes Fernbleiben mit einem Bussgeld geahndet wird, ist in Küsnacht und Erlenbach kein Thema. In Buchberg liegt die Beteiligung an Gemeindeversammlungen regelmässig bei über 75 Prozent. «Der Kanton Schaffhausen kennt allgemein die Stimmpflicht, sodass dieses Beispiel wohl im kantonalen Gesamtkontext gesehen werden muss. Eine gleichartige Rechtsgrundlage besteht im Kanton Zürich nicht, sodass solche Ansätze nicht denkbar sind», schreibt die Gemeinde Erlenbach.
Gemeinden in die Pflicht nehmen
Auch Politikexperte Kalberer steht der Einführung einer Stimm- oder Beteiligungspflicht kritisch gegenüber. Dennoch nimmt er die Gemeinden in die Pflicht, die Teilnahme an Gemeindeversammlungen möglichst attraktiv und zugänglich zu gestalten, und erklärt: «Dazu gehört eine adressatengerechte Kommunikation im Vorfeld ebenso wie organisatorische Unterstützung – Stichworte: Kinderbetreuung oder barrierefreier Zugang.» Es liege im Interesse jeder Gemeinde, eine möglichst hohe Stimmbeteiligung zu erreichen, denn dies stärke die Legitimation politischer Entscheide und Gremien wie den Gemeinderat, so der Politologe.
Ein Auslaufmodell sei die Gemeindeversammlung nicht, betont Stefan Kalberer vom Zentrum für Demokratie Aarau. Nach wie vor biete sie grosse Vorzüge: «Gemeindeversammlungen ermöglichen den direkten Austausch und eine offene Diskussion. Grundsätzlich kann sich jede Person einbringen.» Damit dies funktioniere, müsse die Beteiligung jedoch aktiv gefördert werden. «Nicht allen fällt es gleich leicht, sich in einer vollen Versammlung zu Wort zu melden.»
Gerade deshalb brauche es ergänzende Beteiligungsformen, so Kalberer. Er verweist auf die Stadt Kloten, die mit neuen Formaten experimentiert – etwa mit der Ideenplattform «Kloten 2030», auf der Projektvorschläge eingereicht werden können. Ein weiteres Beispiel ist die «Landsgemeinde Kloten», ein Bürgerrat mit zufällig ausgelosten Teilnehmenden.
Kalberer: «Mit solchen Initiativen wird versucht, die Partizipation attraktiver und niederschwelliger zu gestalten.»