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Sie sind der Literatur-Nachwuchs

Erstellt von Pascal Turin |
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Jetzt steht der Sieger des Schreibwettbewerbs der Küsnachter Buchhandlung Wolf fest. Der Text von Luzius Herzog hatte nicht nur die Jury, sondern auch das Publikum beim Onlinevoting überzeugt. Vergangene Woche fand die Preisverleihung statt.

Willkommen im natürlichen Lebensraum des Homo bibliophilus. Wenn der Schweizer Vorlesetag die erste Stufe seiner Evolution ist, dann folgt auf das Zuhören als nächster Entwicklungsschritt das Selberlesen. Die dritte Stufe erreicht der buchliebende Mensch schliesslich mit der ­Teilnahme am Schreibwettbewerb der Küsnachter Buchhandlung Wolf.

Kinder und Jugendliche bis zum 9. Schuljahr durften Texte einreichen. «Wir haben sehr viele tolle Geschichten erhalten», sagte Stephan Winiger, Inhaber der Buchhandlung, vergangene Woche an der im kleinen Rahmen durchgeführten Preisverleihung.

Insgesamt wurden rund 60 Texte eingeschickt. Winiger hatte auch die Schulen in Erlenbach, Herrliberg und Küsnacht angeschrieben. Zu seiner Freude nahmen zwei Lehrpersonen den Ball auf und schrieben mit ihren Klassen an Texten für den Wettbewerb. Eine Jury las die Geschichten und versuchte das Alter der Schreibenden in die Beurteilung einzubeziehen. Das letzte Wort hatten aber die Leserinnen und Leser des «Küsnachters», die online aus den sechs besten Texten ihren Favoriten wählen durften.

Der erste Preis – ein Büchergutschein über 100 Franken – ging an Luzius Herzog. Der Achtklässler überzeugte mit «Ein Tisch erzählt». Der Text mit seiner Mischung aus beinahe kindlicher Sprache und ziemlich existenziellen Gedanken hätte wohl Autoren wie Antoine de Saint-Exupéry oder Michael Ende gefallen.

Als Höhepunkt las Schauspieler und Sprecher Hans Ruchti die Geschichte von Luzius Herzog vor – was den Worten noch mehr Tiefe verlieh.

Auch die anderen fünf Schreibtalente dürfen sich als Siegerinnen und Sieger fühlen. Ihre Texte waren alle auf ihre Art kleine Kunstwerke. Sie erhielten ebenfalls Büchergutscheine. Stephan Winiger: «Wir gehen davon aus, dass Kinder, die gern schreiben, auch gern lesen.»


Der Siegertext

Ein Tisch erzählt
Luzius Herzog, 8. Schuljahr

Zuerst war da einfach mal nichts. Kein Licht, keine Luft; einfach nichts. Doch plötzlich sah ich etwas Helles. Etwas so Helles, etwas, das ich noch nie sah. Später erfuhr ich, dass man dieses helle Dings «Sonne» nannte. Und noch bevor ich es auch nur realisierte, wurde aus diesem Nichts, das ich war, ein kleiner, schwacher Kirschbaumsetzling.

Dieser Setzling wuchs. Er wuchs und wuchs und wuchs. Ein gutes Jahrhundert war ich schon alt, und ein grosser Kirschbaum wurde aus mir. Gross, grösser, am grössten. Ich war einer der Grössten meiner Art. Einer der Kräftigsten. Einer der Schönsten. Es wurde Winter. Nun ja, ich habe ja schon über einhundert Winter überstanden, und ich würde auch nicht einfach so von einem meiner banalen einhundert Winter erzählen, wenn der nicht anders gewesen wäre. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich es noch nicht, aber es war ein Winter, der mein Leben für immer verändern würde.

Eiszapfen. Viele Eiszapfen. Sie hingen an meinen Ästen und klimperten im Wind. Es war ein schöner Anblick. Dieses Geräusch machte mir immer Freude und zeigte mir, wie schön ruhig es eigentlich war. Ich vernahm ein Knirschen. Fussstapfen im Schnee. Für einen Hasen ist es zu laut. Vielleicht ist es ja ein mürrischer Bär, der im Winterschlaf aufgewacht war und jetzt nach Futter suchte.

Nein, es war ein Mensch. Ich mag Menschen, sie sind sehr unterhaltsam. Aber diese zwei Männer hatten etwas vor, das ich ganz und gar nicht mag! Sie nahmen eine grosse Säge und fingen an, meinen Stamm durchzutrennen. Ich wollte schreien.

Menschen haben kein gutes Gehör, sie hören uns Bäume nicht schreien, und auch wenn sie es hörten – ihnen wäre es egal. Von meinen Wurzeln und Ästen musste ich mich verabschieden, aber zum Glück haben sie nicht meinen Stamm zerkleinert. Der Transport war eine Zangengeburt. Ich tat alles, damit sie mich nicht wegtransportieren konnten, aber schlussendlich banden sie mich auf einen Schlitten und liessen mich von ­einem Pferdegespann ziehen. Diese faulen Säcke brauchten arme, unschuldige Pferde, um mich, gegen meinen Willen, wegzuräumen!

Ich wurde in eine kleine, schäbige Holzhütte verfrachtet und dort zu einer Platte verarbeitet. Und als diese Platte wurde ich dann zwei ganze Jahre in ­einem dunklen Keller gelagert.

Als Stück Holz hat man eigentlich nicht viele Gefühle, aber mir war kalt. Eiskalt. Ich war in diesem Keller und wusste nicht, wie lange ich noch dortbleiben sollte.

Eines Tages kam ein zweiter Baum in die Werkstatt. Es war eine Eiche. Hatte die das gleiche Schicksal? Die Eiche wurde später dann auch zu einem Tischteil verarbeitet, allerdings keine Tischplatte, sondern ein Beingestell. Ich wurde aus dem Keller geholt und auf die Eiche gelegt. Es fühlte sich gut an, wieder das Tageslicht zu sehen. Sie packten uns auf einen Wagen und zogen uns – schon wieder mit Hilfe von Pferden – in ein Kloster.

Da waren wir also. Drei Jahrhunderte lang. Dreihundert Jahre. Der Tagesablauf der Nonnen war monoton. Sie sassen alle an einem Ende von uns und schlürften ihre wässrige Brotsuppe. Es war ein deprimierender Anblick. Sie kamen, beteten und assen. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Lang, länger, Jahrhundert.

Die Aufklärung kam. Ich weiss nicht genau, was das ist, aber plötzlich verschwanden alle brotschlürfenden Nonnen. Wir wurden schon wieder transportiert, aber dieses Mal zu einer grösseren Werkstatt. Wir waren nicht die einzigen Antiquitäten, aber von allen waren wir vermutlich die ältesten. Geschrubbt, geschliffen, geputzt.

Wir wurden wieder aufgefrischt und sahen schöner aus als je zuvor. Schön. Schöner. Neu. Im Laden standen wir. Ich fühlte mich pudelwohl unter all den anderen Möbeln, endlich wieder Gesellschaft!

Eines Tages kam ein Ehepaar, so in ihren Vierzigern, und wollte uns kaufen. Ich konnte es kaum glauben, aber die haben 17  000 Franken ausgegeben! Für uns! Der Zügeltransporter kam, und wir wurden in eine geräumige Wohnung verfrachtet, mit anderen alten Möbeln. Dort wurden wir zwanzig Jahre als Esstisch verwendet.

Das Leben ist kurz. Das sah ich, als die Kinder auszogen und wir wieder gezügelt wurden; dieses Mal in eine Wohnung im obersten Stock eines Neubaus. Und da stand ich. Bis es eines Tages ein Drama gab. Das Ehepaar wurde älter, und irgendwann ist es für jeden so weit. Ein Mann, vermutlich ihr Sohn, nahm uns mit zu sich nach Hause. Was mit den anderen Möbeln passierte, wusste ich nicht.

Heutzutage will niemand mehr einen alten Schrank. Alles muss weiss und modern sein. Die Historie ging verloren. Die Geschichte verschwand in der Ewigkeit.

Aber das alles ist auch nur Vergangenheit.